Donnerstag, 28. Januar 2010

Ohne Anklage

Die Bogside Artists aus dem nordirischen Derry bekommen den Kunstpreis der Joseph-Beuys-Stiftung

Jürgen Schneider

Mit dem diesjährigen Preis der Joseph Beuys/Demarco European Art Foundation werden die unter dem Namen Bogside Artists arbeitenden Künstler Tom Kelly, William Kelly und Kevin Hasson aus der nordirischen Stadt Derry ausgezeichnet. Die Bogside Artists nennen sich nach dem Stadtteil, in dem sie in den vergangenen Jahren auf zwölf Wandgemälden Szenen aus dessen bewegter Geschichte festgehalten haben. Richard Demarco sagte für die Preisverleiher, die Bogside Artists arbeiteten ganz im Sinne des Gründers und Namensgebers des Preises, Joseph Beuys. Sie setzten dessen Praxis fort, Kunst als Heilungsprozeß zu begreifen. Der Preis wird den Künstlern im Februar in der Bogside Gallery verliehen werden. Im November 2004 hatte Walter Momper (SPD), Präsident des Abgeordnetenhauses, eine dort geplante Ausstellung der Bogside Artists kurzfristig mit der Begründung abgesagt, diese sei »unausgewogen«. Einer der Künstler aus Derry sowie der Kurator waren mit polizeilichem Nachdruck am Betreten des Abgeordnetenhauses gehindert worden.

In der von Katholiken bewohnten Bogside wurden im August 1969 Barrikaden errichtet, um das Viertel gegen Angriffe des loyalistischen Mobs, gegen die verhaßte Polizei, die Royal Ulster Constabulary (RUC) sowie gegen die britische Armee zu verteidigen. Free Derry entstand. Räte wurden ins Leben gerufen, Organe der Selbstverwaltung, die für die Versorgung ebenso wie für die Verteidigung sorgten und Ansätze einer eigenen Justiz schufen. Keine Irisch-Republikanische Armee hatte die Gründung solcher Strukturen veranlaßt, die Räte waren als die genuinen Organe der Bevölkerung entstanden. In Free Derry manifestierte sich die Weigerung, die Legitimität staatlicher Gewalt zu akzeptieren. Die Dynamik der Selbstverwaltung stellte eine Gefahr für die Existenz des nordirischen Staatengebildes und darüber hinaus für den britischen Staat dar. Free Derry und ähnlichen »No Go Areas« in Belfast wurde mit der im Morgengrauen des 31. Juli 1972 begonnenen britischen »Operation Motorman« ein Ende bereitet.

Am 30. Januar 1972 hatten sich 20000 Bürgerrechtler am Ende einer Demonstration gegen die Praxis der Internierung ohne Anklage zur Abschlußkundgebung gedrängt, als Soldaten des ersten britischen Fallschirmspringerregiments gezielt und kaltblütig 108 Schüsse auf die unbewaffneten Demonstranten abfeuerten. Als sich die Soldaten zwanzig Minuten später wieder zurückzogen, waren 13 Demonstranten tot, die Hälfte davon Jugendliche; fünfzehn weitere wurden schwer verletzt, von denen einer später seinen Verletzungen erlag. Eines der Wandgemälde der Bogside Artists zeigt die von den britischen Fallschirmjägern Erschossenen.

Die Ereignisse des Blutsonntags von Derry wurden von der Saville-Kommission von 1998 bis Anfang 2005 untersucht. An 367 von insgesamt 435 Sitzungstagen wurden die mündlichen Aussagen von 922 Zeugen gehört. Auf den Untersuchungsbericht warten die Angehörigen der Opfer bis heute vergeblich. Der konservative britische Politiker Owen Patterson, Nordirland-Sprecher der Tories, erklärte vor ein paar Tagen, es sei absurd, den Bericht vor den für Mai erwarteten Unterhauswahlen zu veröffentlichen. Der Bericht soll der britischen Regierung am 22. März übergeben werden. Die Angehörigen der Opfer gehen davon aus, daß sich bei einem Regierungswechsel in London die Veröffentlichung des Papiers, das bereits 2008 vorliegen sollte, bis in den Herbst 2010 verzögern wird.

aus: Junge Welt,
29.01.2010 / Feuilleton / Seite 12

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