Donnerstag, 7. Januar 2010

»Die EU ist ihrem Wesen nach antidemokratisch«

Das französische Nein zur EU-Verfassung wirkt fort. Der Lissabon-Vertrag hat die Widersprüche verschärft. Gespräch mit Pierre Lévy
Interview: Arnold Schölzel

Pierre Lévy ist Herausgeber der französischen Monatszeitung La lettre de Bastille – République – Nations. Am Sonnabend ist er Referent der Rosa-Luxemburg- Konferenz

Wie sehen Sie die Rolle Ihrer Zeitung Bastille- République-Nation bei der Organisierung des Nein der französischen Wähler zur EUVerfassung 2005?
Ganz bescheiden gesagt: Die Zeitung hat sicher einen Beitrag dazu geleistet, der Bewegung für das Nein einen Schub zu geben. Damals war auch die Auflage unserer Zeitung am höchsten. Wir brachten z. B. eine 16seitige Sonderausgabe heraus, die offenbar eine große Wirkung hatte. Wir hatten dort Zitate von Politikern zusammengestellt wie »Der Euro wird die Arbeitslosigkeit abschaffen« und ähnliche Dummheiten. Einige zehntausend Exemplare dieser Ausgabe wurden uns aus den Händen gerissen. Wir waren darauf ziemlich stolz.

Richtete sich das Nein gegen die EU als Synonym für Sozial- und Demokratieabbau?
Das war einer von drei Punkten und natürlich ein sehr wichtiger. Ende 1995 hatte es in Frankreich den erfolgreichen Widerstand gegen die Angriffe der Regierung auf soziale Leistungen, Renten, Krankenversicherung und Arbeitsplätze. Hunderttausende Arbeiter streikten wochenlang, Millionen Menschen demonstrierten. Das war eine enorme Erfahrung. Diese Bewegung manifestierte aus meiner Sicht Angst vor der Globalisierung und Wut über sie. Das spielte auch 2005 eine Rolle. Aus meiner Sicht waren noch zwei andere Punkte für das Nein wichtig. Das war zum einen die Kriegsgefahr und der dritte Punkt: Die reale Gefahr, die Souveränität zu verlieren. Das haben die Menschen in Frankreich nur selten so formuliert, aber es lag auf der Hand. Seit der Französischen Revolution von 1789 ist bei uns Volkssouveränität selbstverständlich. Wir haben den König abgeschafft und wollen nicht, daß Könige anderer Länder uns diese Macht nehmen. Aus meiner Sicht war dieser Punkt mindestens so wichtig wie die soziale Frage, vor allem in der Arbeiterklasse. Die Geographie des Nein entsprach genau der sozialen Geographie, d. h.. das Niveau der Löhne und das Niveau des Nein in den Departements und Städten entsprachen einander. Mehr als andere Wahlen war 2005 eine Klassenwahl.

Fast fünf Jahre danach – in Wirtschaftskrise und mit dem Lissabon-Vertrag der EU – was ist von der damaligen Bewegung übriggeblieben?
Es gibt im französischen Linksspektrum die These, daß alles damals nichts genützt hat, weil es nicht zur Einheit der Linken führte. Ich denke genau das Gegenteil. Die linke Einheit war nicht die Frage, sondern die lautete: Wollen Sie eine Verfassung für die EU oder nicht? Und das wurde klar mit Nein beantwortet. Natürlich ist es ein großes Problem, daß die Linke zersplittert ist, aber die Befürworter der Verfassung haben sich nicht durchsetzen können. Es war ein riesiges Ergebnis, daß sie das Wort Verfassung beseitigen mußten. Das ist das Wichtigste. Außerdem ist die Erinnerung an dieses Referendum heute noch sehr stark. Das bedeutet, daß die Bevölkerung der EU feindselig gegenübersteht.

Viele glaubten, daß wir mit dem Lissabon-Vertrag endgültig die Verlierer sind, weil er zeige, daß Volksabstimmungen keine Rolle spielen. Zunächst ist aber die antidemokratische Dimension und damit das Wesen der sogenannten europäische Integration mit ihm sichtbar geworden. Das ist nicht vergessen, wie die Wahlen 2009 zum Europaparlament gezeigt haben: In Frankreich haben sich 60 Prozent der Wähler nicht beteiligt, das war ein Rekord.

Lautet das Fazit: Die EU-Eliten haben formal gesiegt, können aber nicht ruhig schlafen?
Fakt ist, daß sie den Vertrag haben durchsetzen können, aber er ist in Fetzen. Juristisch ist er in Kraft, kann politisch nicht funktionieren. Und das in einer Situation, in der die Kluft zwischen den Völkern und der »europäische Integration « so tief ist nie zuvor. Meine Überzeugung ist, daß die Widersprüche innerhalb der EU, die stets groß waren, aber ein wenig verborgen, aufbrechen werden. Sie wollten unbedingt diesen Vertrag durchsetzen, jetzt haben sie das Ergebnis und es lautet: Der König ist nackt. Alle Machtfragen innerhalb der EU hat der Lissabon-Vertrag eher verschärft, ich denke an die verschiedenen Präsidenten und andere neue Funktionen. Das sind Bomben in der EUKonstruktion, die wahrscheinlich das Ende der Integration in ein paar Jahren beschleunigt herbeiführen. Deswegen bin ich paradoxerweise optimistisch.

aus: Junge Welt, 07.01.2010 / Ausland / Seite 8

1 Kommentar:

  1. Leider bin ich nicht so optimistisch: Die EU hat mit dem Vertrag von Lissabon den schon gemachten Schritt zum Staat weiter verstärkt. Die Grundrechte der Mitgliedsstaaten sind weigehend außer Kraft: Wenn Gemeinschaftsrecht mit dem EU-Recht kollidiert, dann gilt EU-Recht.

    Weiters gibt es Kompetenz-Kompetenzen, die der EU ermöglichen, die Verträge zu ändern, EU-Steuern einzuführen und sich selbst mit allen Befugnissen auszustatten. Das Ganze muss durch kein Parlament ratifiziert werden.

    Die Charta der Grundrechte gilt jetzt statt den Verfassungen. Die letzte Instanz ist der EuGH staat die nationalen Verfassungsgerichten.

    Die an die übertragenen Ermächtugungen der EU sind nicht mehr überschaubar und keineswegs begrenzt.

    Viele Infos auf www.webinformation.at - www.eu-kritiker.blogspot.com - www.nfoe.at - www.freiheit-frieden.blogspot.com

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